Mein Inneres Kind erwartete mich schon etwas ungeduldig. Es saß gemütlich in einem großen Sessel mit seinem Kuschelhasen auf dem Schoß und einem Buch in der Hand. „Endlich bist du da!“, sagte es zu mir, sobald ich näher kam. Ja, stimmt, ich hatte es so schon länger nicht mehr besucht. Natürlich haben wir im Alltag immer Kontakt und Austausch, aber es in seinem Raum aufzusuchen, das ist nochmal etwas anderes.

„Setz‘ dich hin, ich habe eine Geschichte für dich“, teilte es mir mit und schaute sofort mit voller Aufmerksamkeit in das Buch, das es hielt. „Es scheint eine wichtige Geschichte zu sein“, dachte ich, als ich diese Eile sah. Also setzte ich mich gemütlich hin und war ganz gespannt. Wenn mein Inneres Kind Geschichten erzählte, brauchte es keinen Text, keine Worte. Es schaute einfach in das Buch und die Geschichten wurden um uns herum lebendig.

„Es gab einmal einen Mann, der ganz alleine in einem kleinen Haus lebte“,

so fing die Erzählung an. „Er war noch gar nicht so alt, aber er war immer traurig, ja, sogar etwas verbittert. Seine Frau war verstorben, Kinder hatte er nicht. Die meiste Zeit saß er in seinem alten Sessel vor einem kleinen, dreckigen Fenster im Wohnzimmer und schaute einfach hinaus. Nichts, was er sah, gefiel ihm. Die Straße vor dem Haus fand er einfach nur blöd, die Autos ärgerten ihn, die Menschen, die hin und her liefen, bemerkte er gar nicht. Eigentlich nahm er gar nichts wirklich wahr, außer der Traurigkeit in seinem Herzen und die immer wiederkehrende Frage: „Warum?“

So vergingen die Tage. Die Wochen. Die Monate und Jahre. Nichts änderte sich. Bis zu diesem einen Tag, von dem ich jetzt erzählen möchte.“ An dieser Stelle schaute mein Inneres Kind zu mir und vergewisserte sich, ob ich auch richtig zuhörte. Ich lächelte und war wirklich neugierig auf die Geschichte. Mein Inneres Kind schien mit meiner Aufmerksamkeit zufrieden zu sein, denn es fuhr fort:

„An diesem einen bestimmten Tag stand plötzlich ein kleines Kind vor dem Wohnzimmerfenster des einsamen Mannes.

Es tauchte wie aus dem Nichts auf, es war auf einmal da, mit einem fröhlichen Lächeln, wie vom Himmel gefallen. Es schaute mit funkelndem Blick direkt in die stumpfen, leblosen Augen des Mannes. Es stand eine Zeit lang nur still da, dann fing es an, fröhlich auf der Stelle zu hüpfen und sich um seine eigene Achse zu drehen. Es versprühte dabei so viel Lebendigkeit und Freude, dass es den einsamen Mann schon schmerzte.

„Was will denn dieses Kind hier? Wo kommt es bloß her, so plötzlich, und warum geht es nicht einfach nach Hause?“ – grummelte der alte Mann in sich hinein.

Auf einmal, so plötzlich, wie es auftauchte, verschwand das Kind wieder aus den Augen des Mannes.

„Umso besser!“, dachte er und versank direkt wieder in seinen düsteren Gedanken. Kurz darauf klopfte es an seiner Tür. Er regte sich nicht. Er war es nicht gewohnt, Besuch zu bekommen. Von wem denn auch? Und wozu? Aber das Klopfen hörte nicht auf. Es wurde mal leiser, mal lauter, mal schneller, mal langsamer. „Merkwürdig…“, horchte der Mann plötzlich auf. „Bin ich denn jetzt ganz verrückt geworden?! Höre ich da eine Melodie?!“ Er regte sich immer noch nicht. War doch eh egal. Doch die Melodie wurde immer deutlicher, sie ließ ihm keine Ruhe. Er wollte es kaum wahrhaben, aber langsam erkannte er das Lied… „Das kann doch nicht sein!“, murmelte er und schaute mit absolut verständnislosem Blick zum erstem Mal zur Tür. „Ich kenne dieses Lied!“. Es war eine fröhliche Melodie. Seine Mutter hatte sie damals jeden Tag an seinem Bettchen gesungen. Er kannte seine Mutter kaum, sie war viel zu früh gestorben. Das einzige, das sie ihm zurückgelassen hatte, war die Erinnerung an ihr wunderschönes, liebendes Lächeln in seinem Herzen. Und wie er diese süße Erinnerung hütete! Sie ruhte still in ihm, dort, wo sein Schmerz am tiefsten war.

„Was geht hier vor?!“, fragte sich der Mann nun etwas unruhig.

Bevor er weiter überlegen konnte, sah er auf einmal das Kind von der Straße. Es stand plötzlich mitten in seinem Haus, obwohl er es gar nicht reinkommen sah. „Wer ist denn dieses Kind?!“ So wach war der einsame Mann schon lange nicht mehr. Sein Herz schlug kräftig (seit wann hat es das schon nicht mehr getan!) während sein wundersamer Besuch fröhlich hin und her lief und neugierig überall alles anschaute. Dann kam es zu dem Mann, stellte sich neben ihn vor das Fenster und schaute auf die Straße, so wie er es auch immer tat. „Wow, so ein schöner Ausblick! Du hast es aber schön hier! Du bist ein echter Glückspilz!“, sprudelte es freudig los. „Kann ich bei dir bleiben?“

Der Mann schüttelte fassungslos, mit hochgezogenen Augenbrauen den Kopf. Worte kamen ihm nicht über die Lippen, er war ja sowieso nicht mehr gewohnt zu reden. „So ein Schwachsinn!“, dachte er ärgerlich, „Ich und Glückspilz…!“ Er war wütend, der Groll der ganzen Jahre kochte in ihm hoch. „Und nein, auf gar keinen Fall kann dieses Ding hierbleiben!“, wütete er innerlich und wollte das Kind wegschicken. Da begegneten sich ihre Blicke zum ersten Mal.

Was danach geschah, hat der Mann sich nie wirklich erklären können.

Die Welt schien für einen Moment still zu stehen und ohne, dass er es gemerkt hätte, fiel er sanft in einen tiefen, ruhigen Schlaf. Mit einem Engel an seiner Seite (er hatte noch nie an Engel geglaubt!) glitt er durch Raum und Zeit und träumte.

Er träumte von seiner Mutter, das erste Mal seit ihrem Tod. Sie stand da, mit ihrem göttlichen Lächeln, eine wunderschöne Frau, voller Liebe und Güte. Sie hielt ein Baby in ihren Armen, drückte es ganz sanft an ihr Herz, völlig in der Liebe versunken. Sie wiegte das Kind liebevoll und sang mit zarter Stimme DAS Lied…

Es war alles vollkommen und der Mann dachte, er wäre nun endlich tot und im Paradies. Obwohl er auch ans Paradies nie geglaubt hatte, es schien es doch zu geben und es tat so unendlich gut, dort zu sein. Aber er spürte gleichzeitig, dass sein Leben nicht beendet war. Dass es hier um etwas anderes ging. Aber er war müde. Müde vom Leben. So hüllte ihn der Engel in ein sanftes, heilendes Licht, um ihn erstmal eine Weile schlafen zu lassen. Und er schlief selig und erholte sich.“

„Also, lassen wir den erschöpften Mann schlafen“, schlug mein Inneres Kind vor.

„Wie, wir lassen ihn schlafen??!! Die Geschichte ist doch noch nicht zu Ende, oder? Was ist mit der Frau und dem Baby? Und was ist mit dem Kind, das plötzlich im Haus des Mannes stand?!“ – Ich war überrascht und verwirrt.
„Ja, die Geschichte geht weiter. Aber noch nicht jetzt. Geschichten brauchen auch Pausen. Pausen der Heilung. Kannst du spüren, wie gut das tut? Wie gut es ist, wenn einmal alle Geschichten zur Ruhe kommen? Wenn es für einen Moment keine Vergangenheit und keine Zukunft gibt, nur Raum zum Sein im Jetzt? Kein Warum und Wozu, kein Wie und Wann, kein Wofür und Wohin. Einfach sein.“ Ja, ich konnte spüren und war erstaunt, denn es tat wirklich richtig gut. „Lass du auch alle deine Geschichten für eine kurze Zeit ruhen“, setzte mein Inneres Kind fort. „Suche nicht nach Lösungen, nach Gründen und Erklärungen. Lasse los.“

Damit schloss mein Inneres Kind das Buch.

Es kam zu mir, gab mir einen Kuss und verließ fröhlich den Raum. Ich schaute zu dem Buch, das im Sessel lag. Ich spürte meine Neugier und meine Freude auf die Fortsetzung der Geschichte. Aber noch mehr spürte ich den „heiligen Raum“, den mein Inneres Kind mit seinen Worten eröffnet hatte und zurückließ. Gut, dann lassen wir die Geschichte(n) ruhen. Ich glaube, es tut uns allen gut, einfach mal zu sein.

Herzlichst,

P. S.: Mein Inneres Kind hat mir noch verraten, dass die Geschichte mit dem einsamen Mann weiter geht. Im nächsten Blog erzählt es sie uns zu Ende. Ich bin schon ganz gespannt!