Wir saßen einfach da, still und friedlich nebeneinander. Jeder von uns in sich selbst versunken und doch in Einheit miteinander. Mich beschäftigten viele Sachen in der letzten Zeit, einige Fragen bewegten mich. „Ich könnte mit meinem Inneren Kind über meine Fragen reden, mich mit ihm über das, was mich beschäftigt, austauschen“, sagte mein Kopf. Aber es war nur der Kopf, der wollte – der Rest von mir spürte, dass das im Moment irgendwie nicht das Richtige war. Also schwiegen wir weiter. „Auch mal schön“, dachte ich. Es war so schön friedlich. Wie viel Zeit verstrich, weiß ich nicht – es fühlte sich nach Zeitlosigkeit an. Ich schaute zu meinem Inneren Kind, wie es da saß, mit seinen kurzen Beinen, die in der Luft baumelten und dachte: „Dieses Kind ist ein einziges Liebespaket“. Und während ich mir dieses vor Liebe strotzende Kind anschaute, fiel mir eine Geschichte ein… „Magst du eine Geschichte hören? Soll ich dir eine Geschichte erzählen?“, fragte ich mein Inneres Kind. Es guckte mit freudigen Augen zu mir rüber und sagte: „Ja, ich mag Geschichten. Erzähl!“ „Also gut“, sagte ich, „dann hör zu…“

‚Es lebte einmal ein Schneidermeister, der ein ganz besonderer Schneidermeister war.

Er schneiderte keine neuen Kleider, er änderte auch keine alten Kleider – seine besondere Arbeit war, kaputte Herzen von Menschen zu flicken, damit sie wieder ganz und heile wurden. Und obwohl dieser Schneidermeister einen wirklich hohen Lohn für seine Arbeit verlangte, konnte er sich vor Aufträgen gar nicht retten. Denn es gab unendlich viele Menschen, die mit ihren kaputten Herzen zu ihm kamen. Tag ein Tag aus arbeitete er eifrig an all den Herzen, doch seine Arbeit wurde nie weniger.

Mit der Zeit wurde der Schneidermeister dies nicht nur leid,

er wurde auch immer neugieriger, was all die Herzen, die bei ihm landeten, so sehr in Mitleidenschaft gezogen hatte. Was hat all die Risse, all die Verletzungen und Schrammen an ihnen verursacht? Wo waren all die schönen, reinen Gefühle der Herzen hin? Warum waren sie mit Schmerz gefüllt? Wodurch wurde ihr herrliches Strahlen verschattet? Wieso wurden manche Herzen leer und warum tat diese Leere dann so weh? Was veränderte ihr Schlagen in Freude in ein Schlagen voll von Schmerz und Leid? So viele Fragen, die dem Schneidermeister keine Ruhe ließen…

So beschloss er eines Tages, der Sache auf den Grund zu gehen.

Er schloss sein Geschäft und zog los um herauszufinden, warum so viele Herzen unglücklich waren. Er verkleidete sich, um nicht erkannt zu werden, zog durch die weite Welt und notierte alles sorgfältig, was er unterwegs über die Herzen und über die Menschen erfahren konnte. Das Schicksal führte ihn auf seinem Weg mit vielen Herzen zusammen, die kein Krümmelchen Liebe mehr in sich trugen.

Er traf viele einsame Herzen, Herzen ohne Liebe, Herzen die den Glauben und die Zuversicht verloren hatten und Herzen, die nur noch Lieblosigkeit zu zeigen vermochten. Herzen voller Ärger, mit Wut und Hass vergiftet, von Angst, Egoismus und Missgunst beherrscht. Er traf auf Menschen, die nur nach Geld jagten und Angst davor hatten, gut zu sein, die ihre Herzen verschlossen hatten und nur für sich lebten. Er sah viele Männer und Frauen, in dessen Herzensgrund anstelle von Blumen der Liebe, eine tiefe Trauer blühte. Bei all diesen Menschen war der wichtigste Teil ihres Menschseins – ihr Herz – einfach kaputt. Jedem von ihnen fehlte die Liebe. Dem Schneidermeister dämmerte es langsam:

„Wenn das so ist, dann brauchen die Menschen etwas ganz Anderes,

als jemanden, der ihre Herzen repariert. Sie brauchen jemanden, der sie lehrt zu lieben. Nur so kann dieser Zustand ein Ende nehmen.“ Eine ganze Nacht lag er schlaflos da und überlegte und überlegte.
Er suchte nach einer Lösung. Am frühen Morgen ging er in die Stadt und scharte alle Waisenkinder der Umgebung um sich. Es waren viele Kinder und er bat darum, diese mitnehmen zu dürfen – es wäre für eine gute Sache und auch gut für die Kinder. Dann zog er mit all den Waisenkindern los, kehrte nach Hause zurück und öffnete sein Geschäft wieder.

Er fing erneut damit an, all die kaputten Herzen zu reparieren

– doch von nun an gab er jedem Menschen, dessen Herz er reparierte, eins der Waisenkinder mit. Jeder konnte dieses Kind zu sich nach Hause mitnehmen. Denn der Schneidermeister wusste nun, dass es darauf ankam, dass die Menschen Liebe lernen, damit ihre Herzen wieder ganz und heil werden. Und er wusste, dass sie von niemanden besser Liebe lernen können, als von kleinen Kindern. Denn kleine Kinder leben aus reinstem Herzen, sie verschenken unentwegt Liebe, verschenken Umarmungen, sie heilen mit ihrem Lächeln, mit ihrer Dankbarkeit. Durch ihre Liebe bekommen Menschen einen glücklichen, liebevollen Blick auf das Leben und auf sich selbst. Und sie geben nicht nur Liebe, sie haben auch ein natürliches Verlangen danach und erwecken so diese in den Herzen. Sie malen mit den Farben ihrer Freude die Seelen der Menschen hell und bringen Wärme in ihre Heime.‘ *

Ich hielt an dieser Stelle inne

und schaute mein Inneres Kind, dieses wunderbare Kind voller Liebe und Wärme, an. Unsere Blicke trafen sich, mein Inneres Kind lächelte und beendete die Geschichte mit den Worten:

„Wenn die Menschen lernen, Liebe zu geben, Liebe zu empfangen, werden sie nie mehr jemanden brauchen, der ihre Herzen reparieren muss – das war eine sehr weise Erkenntnis vom Schneidermeister in jener Nacht auf seiner Reise, nicht wahr? Und wie Recht er hatte…! Wenn die Menschen wieder Liebe lernen, Liebe leben, werden alle Herzen und die ganze Welt eines Tages glücklich und von Liebe erfüllt sein.“

Ich nickte nur still, jedes weitere Wort wäre überflüssig gewesen. Wir, der Schneidermeister, mein Inneres Kind und ich waren uns einig. Nur meine Gedanken liefen weiter.

Ich dachte an die Waisenkinder aus der Geschichte.

Welch ein Glück die Leute hatten, die mit so einem Kind gesegnet wurden. Welch ein Glück all die Menschen haben, die mit einem Kind gesegnet sind. Wissen sie das? War mir das zu der Zeit bewusst, als meine Tochter klein war? Die meiste Zeit nicht. Aber jetzt ist mir das bewusst. Ich schaute wieder zu meinem Inneren Kind. Wir schauten uns lange in die Augen, während unsere Herzen zueinander sprachen. Dann rückte mein Inneres Kind näher zu mir, nahm meine Hand und sagte:

„Auch ich war ein Waisenkind,

bis du mich entdeckt und mir ein Zuhause gegeben hast.“ Ich konnte nichts antworten, ich spürte nur ein sanftes Beben des Berührtseins in meinem Inneren.

„Stimmt“, dachte ich weiter, „die Inneren Kinder sind in gewisser Weise wie Waisenkinder… Bis sie Liebe und ein Zuhause bekommen. Und sie heilen genauso die Herzen der Erwachsenen, wie in der Geschichte.“ Ich dachte an all die Inneren Kinder, bei denen ich das schon erlebte erlebt hatte und immer noch erlebe. Die ein Zuhause bekamen und mit ihrer Liebe Heilung schenkten.

„Und du bist auch eine Schneidermeisterin“

– hörte ich mein Inneres Kind sagen. „Ich? Schneidermeisterin?“ Ich dachte darüber nach, dachte noch einmal an die Geschichte. „Ja, man kann es tatsächlich so sehen“, wurde mir klar. Denn auch zu mir kommen Menschen mit ihren „kaputten Herzen“, Menschen denen Liebe fehlt. Nachdem ihre Schmerzen gelindert und ihre Wunden geheilt wurden, kehren auch sie mit einem Kind wieder nach Hause zurück, das ihnen Liebe lehrt: Mit ihrem eigenen Inneren Kind. Ich musste nun schmunzeln:

„Habe ich jetzt einen neuen Beruf???“

Mein Inneres Kind lächelte auch amüsiert. „Wie auch immer“, dachte ich, „eins bleibt gleich: Meine Freude, dass all die Inneren Kinder ein Zuhause bekommen, dass die Herzen der Menschen heilen und die Liebe wieder Platz in ihnen bekommt. Die Welt von diesen Menschen wird mehr und mehr von Glück und Liebe erfüllt sein und wenn es genug von ihnen gibt, dann wird vielleicht die ganze Erde ein ‚Planet des Glücks und der Liebe‘ werden. Denn schließlich bin ich nicht die einzige ‚Schneidermeisterin‘ – wie auch immer sich all die anderen nennen…“

* Das ist eine freie Erzählung des wunderschönen ungarischen Gedichts „A szívek szabója“ von Aranyosi Ervin.